Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, Susanne Riemann nennt ihre Ausstellung
- „Gedankenstriche“ –
dieses Wortspiel gibt mir die Gelegenheit, die verschiedenen Seiten – oder besser ausgedrückt – die verschiedenen Sichtweisen zum Erleben der hier gezeigten Bilder in Form einer gliedernden Betrachtung unter verschiedenen Aspekten aufzuschließen.
Erster Aspekt: Es wird ein Gedanke vorgestellt,
die Ausdeutung dieses Aspektes möchte ich später vornehmen.
Zweiter Aspekt: Der Gedanke wird durch Striche sichtbar, gegenständlich gemacht.
Dabei ist der Begriff „Striche“’ in einem humorvollen Understatement zu verstehen, da die verwendete Technik und Gestaltung weitaus mehr als nur Striche umfasst.
Susanne Riemann arbeitet in einer Mischtechnik. Sie verwendet Pastellkreiden, Farbstifte, Grafit und Bleistifte – sie arbeitet also mit Spur erzeugenden Werkstoffen, so dass man ihre Bilder im weitesten Sinn als Zeichnungen definieren könnte.
Aber es ist nicht die Ausdrucksmöglichkeit der reinen zeichnerischen Darstellung allein, die die Künstlerin interessiert, sondern der aus der Zeichnung heraus entstehende Übergang zur Malerei: es entsteht dadurch eine neue bildnerische Dimension.
So sind es neben den Inhalten besonders die malerischen Werte, – die Gestaltung der Fläche durch Farbe und Struktur im Zusammenhang mit den grafischen Mitteln: Linie – großzügiger Strich – die diese Bilder so faszinierend machen. Diese fließenden Übergänge zwischen Malerei und Zeichnung finden sich in fast allen ihrer Bilder.
Beim Betrachten der Ausstellung, meine Damen und Herren, werden Sie erkennen, wie wichtig der Künstlerin der variantenreiche Umgang mit Elementen der Malerei und Zeichnung für die Gestaltung der ausgestellten Werke gewesen ist.
Dritter Aspekt: Zeichen
Aus dem Ausstellungstitel – Gedankenstriche – lassen sich aus poetischer Sichtweise verschiedene „Zeichen“ herausdeuten wie: „Unterbrechung“ oder „Platzhalter für das unausgesprochene Wort oder der Strich, der zwischen zwei Gedanken steht. Überträgt man diese Definition auf Susanne Riemanns Bilder, so kann man zunächst vordergründig feststellen, dass sie alle gegenständlich sind und „erkennbare“ Bildinhalte aufweisen.
Der angefangene, dargestellte, gesprochene Satz ist also nicht erst zu übersetzen, sondern entspringt unserer bekannten Sprache – d.h. unserer Dingwelt – und ist somit vorerst verstehbar. Aber Susanne Riemann spricht nicht alles aus. Es geht ihr nicht um eine Darstellung, in der ein Gegenstand bis in seine feinste Verästelung hin untersucht und dargestellt wird, – ich denke in diesem Zusammenhang an Dürers „Kleines Wiesenstück“ – sondern sie bedient sich zwar unserer Sehgewohnheit, baut dann aber Barrikaden ein. Die Künstlerin hat bei aller Realitätsnähe in ihren Bilder Verunklärungen, offene Stellen und Irritationen eingebaut.
Sie räumt damit dem Betrachter eigene Erlebnisbereiche ein, schafft Raum und Gelegenheit für die Entwicklung eigener Vorstellungen, Interpretationen, lässt Wünsche und Sehnsüchte entstehen. Die Richtung der möglichen Erlebniswelt zeigt sie allerdings deutlich auf.
Damit meine sehr verehrten Damen und Herren möchte ich zum ersten Aspekt zurück- kommen: Es wird ein Gedanke vorgestellt.
Das auslösende Moment für den Gedanken, der sich durch die Bilder zieht, war die Orchidee. In einem Feng Shui Buch las Susanne Riemann über die fernöstliche Bedeutung dieser Pflanze als eine Blume, die eine gute Aura um sich verbreitet. Sie war vor allem fasziniert von dem Zusatz des Verfassers, dass diese positive Energie nicht nur von der Pflanze an sich, sondern auch von gemalten Orchideen ausgehen könne.
Mit einer Mischung aus Zweifel und Faszination, in Bezug auf diese Aussage, wählte sie für sich eine preiswerte Möglichkeit, das Zutreffen dieser Eigenschaft herauszufinden - sie kaufte sich ein wissenschaftliches Buch über Orchideen und malte diese in verschiedene Variationen an die Wände. So wurde die Orchidee im Verlauf der Beschäftigung mit ihr, Keimzelle für weitere Bilder.
Der Grundgedanke der ausgestellten Bilder lässt sich wie folgt umreißen: Es geht einerseits um die Farben- und Formenvielfalt von Leben, um eine Üppigkeit und Unbeschwertheit, die Susanne Riemann vor allem in warmen, tropischen Ländern sieht, bzw. in sie hineinprojiziert.
Die Orchidee hat aufgrund ihrer unglaublichen Vielfalt und Schönheit etwas Verschwenderisches, etwas natürlich Irreales und scheint für unsere europäischen Augen aus einer Phantasiewelt zu kommen.
Diese Empfindung wird für Susanne Riemann zum Leitmotiv: uns bei aller Wirklichkeitsnähe etwas Entrücktes, Melancholisches, die Suche nach dem verlorenen Paradies spürbar werden zu lassen, aber uns auch zu einer ungetrübten Freude an der sinnlichen Wahrnehmung zu verhelfen.
Damit ist der optische Reiz für das Auge und zwar im Erleben der Vielfalt der Farben, des Wuchses, der Form gemeint oder – wenn sie meine Damen und Herren, zu der beneidenswerten Gruppe von Personen gehören, die beim Genießen eines Kunstwerkes, sei es Musik oder Malerei, sogar Gerüche und Wärme empfinden können, dies erleben zu können.
Ich möchte diesen Kerngedanken, der die Arbeiten durchzieht, am Beispiel des Bildes „Venezuela“, das auf der Einladungskarte zu sehen ist, verdeutlichen. Dieses Bild war – wie mir Susanne Riemann berichtete – immer Zentrum aller in diesem Winter entstandenen Bilder. Hier hat sie etwas angerührt/berührt, hier hat sie etwas gefunden, das sie durch weitere Bilder noch aufschließen wollte.
Das Bild „Venezuela“ zeigt eine Fülle von Farben und Farbnuancen. Es dominieren Grün- und Brauntöne im Kontrast zum Gelb, und man erkennt beim genauen Hinsehen, dass durch Farbschichtungen und Übermalungen noch weitere Farbnuancen entstanden sind.
Ebenso verfährt sie mit der Form: Jedes Pflanzenblatt wird anders bearbeitet; es reicht vom flächig aufgetragenen und vertriebenen Farbton bis hin zu einem Linienbündel für das Orchideenblatt. Es gibt positive Formen (Dunkel auf hellem Grund) aber auch negative (das helle Astgewirr vor dunklem Grund), so dass jede Bildstelle bei aller Gegenständlichkeit auch die abstrakte, reine Wirkung von Farbe, Form und Struktur aufweist.
Der auf diese Art und Weise gestaltete üppige, wilde Pflanzenwuchs lässt im Zusammenhang mit weiten Landschaftsbezügen und einer gelben Sonne das Gefühl von „warmer Freiheit“ im Betrachter aufsteigen. Die Sehnsucht nach einem schönen, warmen Land, in dem das Leben leicht und beschwingt ist , wie uns der Vogel am rechten unteren Bildrand suggeriert – wird emotional angesprochen.
Somit entrückt das Bild bei aller Wirklichkeitsnähe, die Susanne Riemann durch die realistisch gestaltete Orchidee und den Vogel hineinbringt, eher in den Bereich der Vorstellungen und Wünsche. Hierzu trägt auch der große, gelbe Kreis bei. Als eine der Grundformen spricht der Kreis ein Urgefühl in uns an, er erinnert an die Sonne.
Entrücktsein im Sinne von - das Gegenständliche ist vorhanden, aber es wird verstellt oder teilweise abgetragen - gehört zu Susanne Riemanns wichtigen inhaltlichen und gestalterischen Mitteln. In jedem der hier ausgestellten Bilder gibt es immer wieder Situationen, die sich der vollständigen gegenständlichen Formulierung entziehen – also der Wirklichkeit entrücken.
Ich spreche hier die anfangs schon erwähnten Barrikaden oder Verunklärungen an, die Susanne Riemann vor dem Betrachter aufbaut, deren Überwindung und deren Ausdeutung voller Reize sind. Auf inhaltlicher Ebene verunklärt der verstellte Blick in die Tiefe des Raumes, man möchte schon erfahren, was sich hinter den Wänden der Bilder „Kleine Fluchten“ verbirgt.
Auf gestalterischer Ebene entrückt das Bild durch die Mittel der Verschleierung – zu nennen sind hier vor allem: Strukturen, Strichgruppen, Schleier, Verwischtes oder zum Teil wieder Entferntes, mehrfache Überarbeitung einer Bildpartie mit „Restspuren“. Es lassen sich Bildgegenstände nur erahnen. Das freie Spiel der Formen und Linien und die ausschnitthaften Leerzonen erzeugen in diesem Sinne Spannungen. Es ist eine Rücknahme der mimetischen Gegenstandspräzision; sie ist für die Künstlerin in diesem Zusammenhang ein wichtiges Gestaltungsmittel, auf das ich aufmerksam machen möchte.
Diese Gestaltungsweise wird sogar zum Bildthema in der Arbeit „Am Turmfenster“, in dem die Gardine den Blick auf das rothaarige Mädchen und einen Teil des Fensterdurchblicks verschleiert und gerade dadurch die Sinne reizt. Man spürt, wie das Kleid des Mädchens mit der Gardine verschmilzt oder geradezu aus ihr heraus entsteht.
Eine zweite, wichtige Gestaltungsweise ist in diesem Zusammenhang noch zu nennen. Es ist das freie Spiel der Formen oder Linien, aus dem sich der gegenständliche Gesamtkontext des Bildes ergibt. Es gibt dem Bild eine andere Dimension und verleitet dazu, sich das Bild unter anderen Gesichtspunkten, z. B. der differenzierten Oberflächenstrukturierung anzusehen.
Als letztes möchte ich noch auf die ausschnitthaften Leerzonen hinweisen, die mitunter in Susanne Riemanns Gestaltung auftreten. Sie reduzieren den Gegenstand auf die Kontur und zeigen damit bei größter Verdichtung zugleich auch die größtmögliche Offenheit für den Betrachter.
In dem Bild „Quo vadis“ ist die Fläche des Oberkörpers und Hemdes nicht bearbeitet und nur als Kontur begrenzt. Erst die hineinragende rote Krawatte belebt die Fläche und ruft damit sogar eine Stofflichkeit in der Wahrnehmung der „Leerzone“ hervor.
Susanne Riemann baut somit in ihren Bildern auch durch den Gegensatz von dichter gestalteten Bildstellen zu offen gelasseneren Bildstellen eine Spannung auf.
Spricht man mit Susanne Riemann über ihre Bilder, so ist ihr immer wieder die klare Komposition wichtig: z.B. das Dreieck als eine Grundform der Komposition, aus dem sich ein Durchblick in die Tiefe ergibt. Hinzu kommt eine Diagonale, die sich zwischen den Bildecken erstreckt und die Statik des Dreiecks durch eine leichte Bewegung aufbricht.
In den Bildern „Kleine Fluchten“ war ihr u.a. die Variation unterschiedlicher Rechtecke in Verbindung mit einem Kreis für die Komposition so interessant, dass drei verschiedene Arbeiten zu diesem Thema entstanden.
Bei aller hier aufgeführten Sachlichkeit sind die Bilder aber vor allem sehr sinnlich-emotional, das verdeutlichen schon die Bildtitel: „Venezuela“ – „Blumenzauber“ oder „98 % Luftfeuchtigkeit“. Sie zeigen die Sehnsucht nach einer „warmen Freiheit“ in Übersee auf - meine Damen und Herren, Große Fluchten? Es schwingt in den Bildern auch die Suche, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies mit, ein Antriebsmotor für Kunst und Gestaltung – vielleicht sogar für Leben insgesamt.
Meine Damen und Herren, durch die Art der Gestaltung kann der Betrachter Freude/Spaß daran empfinden, er kann mit den Augen durch die Bilder spazieren gehen und dabei auch die illusionistisch aufgebaute Einbeziehung anderer Sinne mit auf sich einwirken lassen, die Nase oder das Wärmeempfinden der Haut.
Auch in diesem Sinn habe ich Susanne Riemann verstanden, als sie mir sagte, sie wollte in den kalten Tagen des Winters, in denen diese Arbeiten entstanden sind, Bilder malen, die Kraft geben.